Besuch bei der Genossenschaft - die Mütze bei Orbea

Es gibt sicherlich viele unterschiedliche Arten, um den Erfolg eines Unternehmens zu dokumentieren. Umsätze, Gewinne, die lange Geschichte oder auch Popularität und Wert einer Marke sind feste Indizien, die wir alle schnell nachvollziehen können. Wenn ein Unternehmen jedoch als wichtigen Indikator für den eigenen Erfolg die Anzahl der Mitarbeiter*innen und somit auch der Familien, die durch das Unternehmen ein festes Einkommen haben, kommuniziert, merkt man, dass etwas andere Parameter am Werk sind. Wenn zusätzlich fest verankert ist, dass 10% der Gewinne in soziale Projekte aus dem sportlichen oder humanitären Bereich von Unicef bis Trailbuilding investiert werden, dann wird deutlich, dass sich eine Firmenphilosophie von den üblichen Gepflogenheiten abhebt.


1840 von den drei Brüdern Jaun Manuel, Casimiro und Mateo Orbea in Eibar gegründet, war der ursprüngliche Unternehmenszweck deutlich anders gelagert: man produzierte Waffen, genau genommen Handfeuerwaffen. 80.000 Revolver verließen das Werk 1895, der Umsatzrekord im Schatten des Weltkriegs betrug 1916 725.000 Waffen. Doch ab Mitte der 1920er veränderten sinkenden Umsätze die Ausrichtung, die erworbene Kompetenz in Sachen Metallverarbeitung und Rohre wurde auf die deutlich angenehmeren Geschäftsfelder Kinderwagen und Fahrräder übertragen. Im Umland von Durango ist die Produktion von Fahrrädern und Radzubehör im letzten Jahrhundert nicht ungewöhnlich, unzählige Firmen und Marken wie Zeus, GAC, BH, Ciclos Iberia oder Saeta sind oder waren in der direkten Umgebung mit der Herstellung von Fahrrädern und Radzubehör beschäftigt. Nach Ende des spanischen Bürgerkriegs konzentrierte man sich bei Orbea völlig auf die Radproduktion, 1000 Mitarbeiter*innen bauten in den Rekordjahren 50.000 Fahrräder im Jahr, dazu kamen in den 50er Jahren erfolgreiche Lizenzprodukte wie das legendäre Velosolex-Mofa.

Die rückläufige Fahrradproduktion, unter anderem durch erschwingliche Autos und den damit verbunden Mobilitätswandel verursacht, brachte das Unternehmen in Schwierigkeiten, so dass schließlich Esteban Orbea während der 60er Jahre aufgrund finanzieller Einbußen seine Firma schließen wollte. Doch die Mitarbeiter*innen hatten andere, weitaus kreativere Pläne und so konnten Ende des Jahrzehnts 100 von ihnen die Übernahme des Werks als Genossenschaft vermelden. Die 70er und 80er Jahren waren eine gewaltige Herausforderung für das baskische Umland, ähnlich wie im Ruhrgebiet wurden große Teile der nordspanischen Stahl- und Schiffsindustrie abgewickelt, die Region musste mehr als 100.000 Arbeitslose verkraften. Doch die Politik traf die richtigen Entscheidungen, innerhalb von wenigen Jahrzehnten wandelte sich die Region um Bilbao vom abgemeldeten Stahlproduzenten zum innovativen Technologie-, Finanz- und Dienstleistungsstandort, Firmen-Neugründungen wurden Dank steuerlicher Vorteile unterstützt, Maschinenbau und spezialisierte Unternehmen nahmen Fahrt auf. Bilbao wandelte sein Image einer dreckigen Industriestadt vollständig und wurde unter anderem dank des Guggenheim-Museums zu einer pulsierenden, modernen Metropole, die heute Besucher aus aller Welt anlockt.

Orbea schloss sich bereits zu Beginn der siebziger Jahre der 1956 gegründeten Mondragón Corporación Cooperativa an, heute mit 80.000 Mitarbeiter*innen und mehr als 11 Mrd. Umsatz größten Industrie-Genossenschaft der Welt und das siebtgrößte Unternehmen Spaniens. Diese Verbindung ermöglichte zu Beginn der Wirtschaftskrise flexible Lösungen für angeschlossene Genossenschaften und bietet auch heute noch weitreichende Vorteile, so kann Orbea auf den hauseigenen Windkanal der Universität von Mondragon zugreifen, um Modelle wie das Orca Aero zu entwickeln.
Wenn es um den sportlichen Part geht, so hat auch hier Orbea eine lange Historie zu bieten, bereits im ersten Katalog 1931 war mit dem Bicicleta Modela Media Carrera eines der drei vorgestellten Modelle ein Rennrad. 1935 zum Start der ersten Vuelta saßen knapp die Hälfte der Fahrer auf Rädern der Basken. Das Top-Modell Super Professional aus Reynolds-Rohren entsprach internationalem Standard, nahezu alle Anbauteile wurden selbst gefertigt, lediglich Reifen wurden zugekauft. In den 80er Jahren konnte das Unternehmen Dank seines starken Profiteams zahlreiche Erfolge feiern, so gewann Pedro „Perico“ Delgado die Vuelta. 1985 wurde eines der ersten Frauen-Radsportteams Spaniens gegründet, Ende der Achtziger fiel der Mountainbike-Boom im bergigen Umland auf fruchtbaren Boden und führte dazu, dass man sich nach Jahren der Produktion von unterschiedlichen Alltagsrädern wieder verstärkt sportlichen Modellen zuwendet.

Schließlich gründet man 2005 das Orbea-Team mit UCI-Lizenz als Continental-Team, seit 2017 schließlich das Orbea-Fox-Factory-Team im MTB-Bereich, 2024 begann auf der Straße die Kooperation mit dem belgischen Team LOTTO-DSTNY und brachte so die baskische Radsportbegeisterung mit Flanderns langjährigem Pro-Team-Sponsor zusammen.
Orbea hat in den letzten Jahren als Unternehmen Dank bewusster Entscheidungen einen enormen Sprung gemacht und gehört aktuell zu den zehn größten Radproduzenten der Welt. Dies wird auch am Standort in Mallabia deutlich. Aus Platzgründen wurde derzeit die Produktion der hauseigenen OQUO-Laufräder ausgelagert, sie werden in einer externen Halle im Umland eingespeicht, hier treffen Hi-Tech-Maschinen auf Handarbeit alter Schule.
Individualisierung braucht Platz, vor allem natürlich der Lackierbereich. Aktuell werden ca. 30 % der hochwertigen sportiven Modelle individuell gestaltet, ein Service, der in Umfang und Vielfalt sicherlich einzigartig in der Fahrradproduktion ist. Während hochmoderne Lackierroboter effizient die Standardlackierungen in der Lackierstraße übernehmen, wartet auf die individuellen Rahmen und Gabeln der MYO-Serie ein arbeitsintensiver Lackierprozess in unterschiedlichen Schritten. Hochmoderne Lackierkabinen garantieren Qualität und umweltbewusstes Arbeiten, kompetente Profis an der Farbpistole die perfekte farbliche Umsetzung.

Einen weiteren, umfangreichen Bereich der Fabrik nimmt die Entwicklung der zukünftigen Radmodelle ein. Nach diversen Testreihen an den jeweiligen Prototypen werden die Rahmen schließlich in Asien gefertigt und von dort unlackiert nach Spanien geschickt, um lackiert und montiert zu werden. Das eigene Testlabor überprüft nicht nur stetig die eigenen Prototypen und Produkte, sondern auch alle verbauten Teile der Räder, unabhängig davon, welcher Zulieferer dahintersteht. So minimiert man teure Reklamationen und hat sich über die Jahre ein hervorragendes Standing bei seinen Partnern erarbeitet, indem man vereinzelt auftretende Probleme schnell und kompetent kommunizieren konnte.
Jeder individuelle Rahmen bekommt eine durchlaufende Produktnummer, die neben der Lackierung auch alle weiteren Parameter von der Lenkerbreite über Vorbau- und Kurbellänge festhält, alle erforderlichen Teile werden schließlich im Vorfeld der Montagestraße zusammengebracht, bevor alles in aufwändiger Handarbeit zu einem Wunschrad komplettiert wird. Wer, wie wir in der Mütze, Räder komplett montiert, weiß um die Unmengen an Einzelteilen, die bei einem Komplettaufbau anfallen, hier muss nicht nur logistisch perfekt gearbeitet werden. Und wir wissen, wie entscheidend eine seriöse Montage aller Teile für den langfristigen Spaß mit einem Fahrrad ist.

Optimierung von Prozessen begleitet uns alle im Arbeitsalltag, sie helfen uns und können unsere Arbeit unterstützen. Jedoch bleibt es für Unternehmen wichtig, ein angenehmes und produktives Umfeld zu schaffen, was mit Identifikation und vielen anderen Komponenten zu tun hat. Nachhaltigkeit, der Umgang mit Ressourcen und unserer Umwelt und bewusster Konsum sind extrem wichtig für unser aller Zukunft. Die Mitarbeiter*innen von Orbea haben in ihrer Form als Inhaber anscheinend vieles davon erkannt und die richtigen Schlüsse gezogen und das Unternehmen modern und mit einem Blick für soziale Verantwortung aufgestellt. Es ist ein sehr gutes Gefühl, zu sehen, dass genau diese Ausrichtung so erfolgreich ist und ein hochmodernes Fahrradunternehmen mit einem positiven Blick in die Zukunft stetig wachsen lässt.
Orbea machen gerade vieles richtig. Schön, dass wir dabei sind.
Danke an Conchi, Sandra, Javier und Stuart für die Zeit und den Einblick.
Text: Carsten
Bilder: (C) Kerstin

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